Ein Zeitdokument

Ein Zeitdokument

Beim Auflösen eines Nachlasses findet sich so allerhand Zeug aus der Vergangenheit und dem Leben des Toten. Manche Sachen kann man relativ einfach entsorgen, bei manchen tut man sich schwerer. Und dann gibt es Dinge, die kann man einfach nicht wegwerfen. So ist meiner Mutter eine Mappe in die Hände gefallen, in der unter anderem ein fünfseitiger Aufsatz abgeheftet war, den mein Vater in der siebten Klasse geschrieben hat.

Thema: Meine Erinnerungen an die letzten Kriegsjahre

Nachdem ich den Aufsatz gelesen habe, hat mich der dringende Wunsch gepackt, ihn öffentlich zu machen. Wenn Sie ihn lesen, behalten Sie im Hinterkopf, daß er von einem kleinen Jungen geschrieben wurde, der alles das, was er beschreibt, selber erleben mußte. Nächte im Bunker, Bomben, Tod, Zerstörung, Angst um das nackte Leben. Bei der einzigen Zeitangabe im Text (1944) war mein Vater sechs Jahre alt.

Im Anhang finden Sie den Text einmal als PDF, sowie die abfotografierten Seiten des Aufsatzes. Falls Sie ihn irgendwo verwenden können, können Sie das gerne tun, solange es nichtkommerziell geschieht. Genaueres finden Sie hier.

Sehr freuen würde ich mich über Rückmeldungen zu diesem Aufsatz.

Meine Erinnerungen an die letzten Kriegsjahre

1)      Es war an einem schönen Sonntagmorgen. Mein Freund und ich waren gerade auf dem Weg zur Kirche, als die Sirenen ertönten. Mein Freund sagte „Los! Jetzt aber so schnell wie möglich nach Hause.“ Es war auch schon höchste Zeit. Meine Eltern kamen uns schon entgegen. Zu Hause angekommen, waren wir kaum im Bunker, als ein lauter Krach ertönte. Das Licht erlosch und ich hörte meinen Vater sagen: „Ganz in der Nähe ist eine Bombe gefallen.“ Nach dem Angriff sahen wir, daß die Scheiben der Häuser alle zertrümmert ware. „Wo ist die Bombe denn gefallen?“ fragte meine Mutter. „Dort im kleinen Wald.“ erwiderte eine Frau. „Am Bunker?“ fragte mein Vater erschrocken. Wirklich! Keine 40 Meter vom Bunker entfernt war ein tiefes Loch. Die Umgebung war mit Splittern übersät. „Was haben die Leute da im Bunker Glück gehabt.“ sagte mein Vater. „Wenn das Ding 10-15 Meter weiter zum Bunker gefallen wäre, dann würde nicht mehr viel von ihm übrig geblieben sein.“

2)      Zur gleichen Zeit war in ein benachbartes Bauernhaus eine Bombe gefallen, die jedoch nicht explodierte. Keiner der Leute wagte sich in die Zimmer, um etwas zu retten, denn der Blindgänger konnte jederzeit losgehen. Es war abends gegen sechs Uhr, als ein lauter Knall ertönte. Mein Vater lief in den Hof und holte den Feuerwehrwagen. Er konnte nicht viel machen, weil er alleine war. Ich sah eine große Flamme aus dem Bauernhaus auflodern. Da ich so etwas noch nieh erlebt hatte, lief ich zu meinem Vater und sagte ihm ganz aufgeregt: „Sieh mal her, das Haus steht lichterloh in Flammen.“ „Weiß ich.“ antwortete er kurz und fuhr mit dem Auto zur Brandstelle. Weil inzwischen wieder Alarm gegeben war, lief ich nach Hause. Vom Bunker aus konnten wir die Brandstelle genau st sehen. Fast wäre mein Vater bei den Löscharbeiten verunglückt. Als er nämlich durch eine Seitentür in das Haus laufen wollte, stürzte ihm eine Mauer entgegen. Als der Brand gelöscht war, fanden die Feuerwehrleute noch viele Brandbomben, die man vorher nicht bemerkt hatte, in der Scheune, in welcher sich das ganze Stroh befand.
Weil die ganze Nacht Alarm war gingen wir erst in der Morgenzeit wieder in die Wohnung zurück. Als ich meinen Vater später fragte: „Wann bist Du denn nach Hause gekommen?“ sagte er: „Als wir den Brand gelöscht hatten, war es gegen vier Uhr.“

3)      Es war in der Adventszeit. Meine Schwester und ich waren noch im Kindergarten, als die Oberin sagte: „Heute Abend kommt der Nikolaus.“ Natürlich war die Freude groß. Wir konnten den Abend kaum erwarten. Als es endlich so weit war, wurde Alarm gegeben. Wir mußten alle in den Bunker. Der Mann, der den Nikolaus spielte, war auf dem Wege zu uns. Obwohl es allerhöchste Zeit wurde, ging er doch genau so langsam wie vorher. Doch als die ersten Bomben fielen, beeilte er sich. Er kam zu spät. Kaum hatte er den Eingang erreicht, fiel nicht weit von ihm eine Luftmine. Von einem Splitter wurde er so unglücklich getroffen, daß er bald darauf starb. Wir waren sehr betrübt darüber, als es hieß: Der Nikolaus kann heute Abend nicht kommen. Warum nicht, das wußte keiner von uns. Daß der Nikolaus erst verletzt und dann gestorben war, erzählte mir mein Vater später.

4)      Mein Vater und ich fuhren einmal mit dem Motorrad nach R. plötzlich wurde Vollarlarm gegeben. „Wo wollen wir nun hin?“ fragte ich erschrocken. Noch nie war ich bei Alarm unterwegs gewesen. Wir suchten den nachsten Bunker auf, weil bereits die ersten Bomben fielen. Wir stellten das Motorrad in einen Busch und liefen in den Stollen. Auf einmal erlosch das Licht und einige Sekunden später hörte man einen fürchterlichen Knall. Die Leute in ihrer Angst fingen an zu beten. Nach dem Angriff bot sich uns ein schauriges Bild: Auf dem nahen Bauernhof war ein Volltreffer in das Haus gegangen. Hühner lagen zerrissen auf dem Hof. Schweine, Kühe und Kälber liefen wild umher und waren teilweise schwer verletzt. Hier sah man Männer, welche mit den Rettungsarbeiten beschäftigt waren, dort sah man welche, die schwerverletzte Tiere abschlachteten. Es war ein Bild, das ich niemals vergessen werde. Aber plötzlich durchfuhr mich ein Schreck: wo ist mein Vater? Ich lief hin und her, konnte ihn aber nicht finden. Als man mich fragte: „Wen suchst Du?“, antwortete ich „Meinen Vater.“ Der mich fragte, war ein guter Bekannter von uns. Er antwortete: „Der holt sein Motorrad.“ Beruhigt wartete ich auf ihn. Da faßte er mich auf die Schulter und sagte: „Komm her, wir wollen nun nach Hause.“ Ich stieg mit auf und wir fuhren los. Auf dem Nachhauseweg sah ich noch viele Dinge, welche mich aufmerksam machten, z.B. Auf einer Wiese, an der wir vorbeikamen, lag hier ein Kuhbein, dort ein Pferd und hier war ein großer Blutfleck. Die Tiere hatten unter einem Baum gestanden, als eine Bombe mitten unter sie fiel. Weiter sahen wir viele zerrissene Hühner und Gänse an der Straße liegen. Als wir zu Hause angekommen waren, wurde mir übel, von dem, was ich gesehen hatte. „Das war auch zu viel auf einmal.“ sagte mein Vater. Aber bald darauf war alles vergessen.

5)      Es war im Sommer. Ich war gerade damit beschäftigt die Pferde meines Onkels vor die Mahmaschine zu spannen, als Vollalarm angezeigt wurde. Ich lief eiligst ins Haus und suchte meine Mutter. Da diese aber schon weggegangen war, lief ich hinterher. Kaum war ich im Bunker, als unverhofft das Licht erlosch. Einige Minuten später fielen gar nicht weit entfernt Bomben. Nach dem Angriff sahen wir den Schaden: Die Türen waren aus den Angeln gerissen, die Scheiben waren restlos zertrümmert, das Dach war abgedeckt, das Vieh war wild geworden und Splitter lagen auf dem Hof herum. Kaum drei Tage später kam mein Onkel auf Urlaub. Er schafte zusammen mit den Nachbarn und Handwerkern nach und nach Ordnung und als der Herbst anbrach, war alles vergessen.

6)      Ein schöner Sonntagmorgen brach an, Palmsonntag 1944, als wir durch Alarm geweckt wurden. „Wir fahren zum Stollen.“ sagte mein Vater, „dort sind wir sicherer als in unserem Bunker.“ Wir fuhren los. Als wir angekommen waren, fielen schon Bomben. Der Himmel war bedeckt mit weißen Streifen, die von Bomben gezogen wurden. Plötzlich rief ein Mann: „Alle in den Stollen!“ Einige Sekunden später knallte es auch schon in kurzen Abständen. „Ein Teppichwurf.“ sagten die Leute. Die Bomben waren in den nahen Wald gefallen. Dort waren Bäume entwurzelt und lagen durcheinander. Viele Äste waren abgebrochen und ein Fuchsbau war aufgesprengt. Wir konnten die Umgebung kaum wiedererkennen.

Als der Krieg vorüber war, freuten wir uns am meisten darüber, daß unser Haus unbeschädigt geblieben war, und daß wir wenigstens nachts wieder ruhig schlafen konnten.

Die PDF-Datei gibt es hier.

Schlauschiesser

1 Kommentar bisher

Henning Veröffentlicht am17:22 - 28. November 2009

Super, dass du dir die Mühe gemacht hast, es zu teilen, danke dafür! Es hat meiner Vorstellung vom Krieg einige Facetten hinzugefügt. Ich habe den Link zu dem Zeitdokument bei Facebook gepostet. Manche meiner Kontakte sind (Geschichts)lehrer, das wird sie interessieren.