Vor einigen Tagen kam ein weitergeleiteter Beitrag in meine Timeline, in dem es um eine Rede ging, die ein Kinderarzt auf einer „Freiheitsversammlung“ in München gehalten hat. Diese Rede habe ich erst mehrfach gelesen, mich in zunehmendem Maße darüber geärgert und nach ein bißchen Bedenkzeit habe ich mich entschlossen, eine Replik zu schreiben. Denn wenn solche Texte unwidersprochen bleiben, lösen sie bei dem einen oder anderen unter Umständen eine mentale Bewegung in eine verhängnisvolle Richtung aus. Vielleicht kann ich mit diesem Text Nachdenken und Hinterfragen auslösen.
Zur Person
Martin Hirte ist Kinderarzt in München. Was er nicht ist, ist Virologe, Infektiologe oder Epidemiologe. Wer bei ihm behandelt werden möchte, muss privat versichert sein oder aus eigener Tasche bezahlen.
Er ist außerdem Homöopath und Impfgegner sowie Autor mehrerer Bücher, die im Kopp Verlag erschienen sind.
Zur Einordnung: der Kopp Verlag ist rechtsesoterischer Verlag, der Bücher verkauft mit Titeln wie
- Das Anglo-Amerikanische Establishment (Die Geschichte einer geheimen Weltregierung)
- Das Theater um Greta und die Klima-Hysterie (Leugner Blender Scharlatane)
- Durch globales Chaos in die neue Weltordnung
- Die Öffnung des 3. Auges (Quantenphilosophie unseres Jenseits-Moduls)
- Mein Vater war ein MiB
Eine ausführliche Beschreibung Martin Hirtes finden sie hier. Eine Rezension seines Buches Impfen Pro & Kontra gibt es hier. Sie sollten sie lesen, sie vermittelt einen Einblick in die Ansichten und Arbeitsweisen von Martin Hirte. Machen sie ruhig, ich warte solange.
Für mich persönlich hat sich das Thema an dieser Stelle bereits erledigt. Impfgegner (auch wenn sie unter dem Deckmantel des „man wird doch fragen dürfen“ daherkommen) sind widerwärtige Arschgeigen, die bereitwillig das Leben und die Gesundheit ihrer Kinder riskieren. Wobei sie selber für gewöhnlich durchgeimpft sein dürften, denn ihre Eltern waren hoffentlich schlauer. Ergänzend kommt noch hinzu, das er an die Wirksamkeit von Zucker bei der Behandlung von Krankheiten glaubt. Wer das tut, spielt mit der Gesundheit anderer. Aber sie ist lukrativ für denjenigen der sie verschreibt. Ich halte es bei der Homöopathie mit dem Satz Wer an Homöopathie glaubt, muss dran glauben.
Die Rede
Was als erstes auffällt, ist die Form. Kurze Sätze, oft weniger als zehn Worte. Knallige Thesen in der Art von Überschriften der Bild. Immer wieder. Eine nach der anderen.
Diese Form wird gerne genommen, um beim Hörer das kritische Denken und Hinterfragen zu überfordern. Denn während man sich noch mit einem Satz beschäftigt, sind die nächsten drei schon an einem vorbeigedonnert, ohne das man eine realistische Chance hatte, sie zu durchdenken. Es bleibt nur das Gefühl zurück, das der Satz ausgelöst hat.
Ebenfalls auffällig: es werden Behauptungen aufgestellt, die niemals irgendwo belegt werden. Wenn ich z.B. behaupte, die Studie von Christian Drosten zur Infektiosität von Kindern weise eklatante Mängel auf, dann muss ich diese steile These auch in einer Rede in irgendeiner Form belegen. Der Hinweis, so hätte es im Ärzteblatt gestanden und wir wüßten das aus Österreich, Schweden, Island, Italien und den Niederlanden (ebenfalls ohne Belege behauptet) gilt nicht.
Es wird die ganze Gefühlsklaviatur von Eltern bespielt, die dafür natürlich besonders empfänglich sind. Kein Elternteil möchte, das sein Kind Einschränkungen der Art unterworfen wird, wie sie derzeit gelten. Ich sähe es auch lieber, wenn meine Tochter wie immer in die Schule ginge und sich mittags zum Spielen verabreden könnte. Kombiniert mit der oben bereits angesprochenen Form seiner Rede baut er eine aggressive Stimmung gegen die herrschende Situation auf, indem er uns das tatsächliche oder erfundene Leid der Kinder um die Ohren haut. Ausgelassen wird passenderweise, das alle angesprochenen Verluste von Fähigkeiten total reversibel sind. Wenn die Kinder wieder in die Schule oder Kita dürfen, werden sie sehr schnell wieder die Fähigkeiten zurückbekommen, deren Verlust Herr Hirte so lautstark beklagt.
Überhaupt: woher hat er diese Erkenntnisse über das Leid der Kinder? Laut seiner Aussage „aus seiner kinderärztlichen Tätigkeit“. Seine Datenbasis sind also die wohlhabenden, impfkritischen und homöopathiefreundlichen Eltern aus München? Daraus leitet er also ab, wie es den Kindern in Deutschland allgemein geht? Daraus und aus „einer(!) syrischen Familie, die er kennt“? Ich bin kein Statistiker, aber ich sehe da ein Problem. Vielleicht hat er ja noch andere Quellen, aber die verrät er nicht.
Irgendwann versteigt er sich zu der Forderung, Kitas und Schulen sollten sofort für alle und ohne Einschränkungen, ohne Maskenpflicht, ohne Abstandsregeln wieder geöffnet werden. So eine Forderung kann man eigentlich nur stellen, wenn man glaubt, das Krankheiten mit ein Zucker hervorragend heilbar sind.
Es gibt keine belastbaren Erkenntnisse darüber, ob Kinder ansteckend sind oder nicht. Es gibt für beide Möglichkeiten Studienergebnisse, aber da diese Krankheit noch so neu und unbekannt ist, kann sich jederzeit etwas ändern. Das ficht Herrn Hirte aber nicht an. Öffnen und zwar jetzt. Das damit eventuell alle erwachsenen Mitarbeiter einer unter Umständen lebensbedrohlichen Krankheit ausgesetzt werden nimmt er in Kauf. Das „Recht der Kinder auf Spiel mit anderen Kindern“ (wo steht das eigentlich?) wiegt schwerer für ihn als das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Erzieher*innen, Lehrer*innen und sämtlicher anderer Mitarbeiter*innen dieser Einrichtungen. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit findet sich übrigens im Grundgesetz, §2, Abs. 2.
Um zu unterstreichen, wie sinnlos die ganzen Maßnahmen zur Eindämmung sind, zieht er das altbekannte Argument der vielen tausend Toten durch eine beliebige andere Krankheit (hier: Lungenentzündung mit 60.000 Toten im Jahr) aus der Tasche. Die erste Frage ist natürlich, woher er die Zahl hat. Dreißig Sekunden bei der Suchmaschine ihres Vertrauens bringen sie auf diese Seite der Gesundheitsberichtserstattung des Bundes. Hier wird für das Jahr 2018 (aktualisiert am 19.05.2020, neuere Zahlen gibt es nicht) fein säuberlich aufgeschlüsselt, wieviele Menschen an welcher Form der Lungenentzündung gestorben sind. Es sind laut der amtlichen Statistik 23.885. Das ist sehr weit entfernt von den behaupteten 60.000. Es sei denn, Herrn Hirte lägen aktuellere Zahlen vor, die zeigen, das die Zahl der tödlich verlaufenen Lungenentzündungen innerhalb von 18 Monaten (01.01.19 – 31.05.20) um den Faktor 2,5 angestiegen wäre. Solange das nicht geschieht, unterstelle ich Stimmungsmache. Ganz außen vor lasse ich jetzt, das einen gewaltigen Unterschied zwischen Lungenentzündung und Corona gibt: das eine ist hochansteckend, das andere nicht. Das bedarf keiner weiteren Erklärung, glaube ich.
Und damit zum eigentlichen Unsinn dieses Arguments: es geht bei den Maßnahmen der Bundesregierung nicht primär um die Verhinderung von Todesfällen. Es geht primär darum, die Krankenzahlen so gering zu halten, das jeder Erkrankte so gut wie möglich behandelt werden kann. Es geht darum zu verhindern, das das Gesundheitssystem von einer Flut an schwer kranken Menschen überrollt wird. Es gibt in Deutschland 30.058 Intensivbetten, davon sind 12.665 frei (Quelle). Um diese Betten geht es. Wenn der Krankheit nicht mit allen Mitteln Einhalt geboten wird, werden diese Betten nämlich sehr schnell mit Coronapatienten gefüllt sein. Diese brauchen dann unter Umständen 11 bis 14 Tage Beatmung (Quelle) und sind dann nicht aus der Intensivstation heraus. Dazu kommen noch die anderen armen Teufel, die aus unterschiedlichen Gründen intensivmedizinisch betreut werden müssen. Keiner kann wollen, das Ärzte entscheiden müssen, wer das freie Intensivbett bekommt und wer nicht. Denn dies ist eine Entscheidung über Leben und Tod. Erwähnte ich übrigens, das medizinisches Personal, welches sich auf die Beatmung von Intensivpatienten versteht ein knappes Gut ist?
Die vielen kreativen Konzepte, die es laut Herrn Hirte gibt, die ohne Entwürdigung von Menschen und Kindern (interessante Unterscheidung) und ohne Zwang und Strafen auskommen würden mich brennend interessieren. Aber leider behält er dieses Wissen für sich.
Und so geht es weiter. Pandemie-Maßnahmen sind wirkungslos, zahlreiche Wissenschaftler haben das vorgerechnet (welche? Auf Grundlage welcher Daten? Wo sind die Ergebnisse?). Ich weiß nicht, ob das belastbar ist, aber ein Blick in Gegenden, in denen weniger oder laxere oder gleich gar keine Maßnahmen ergriffen wurden zeigt, wie eine Pandemie auch verlaufen kann. Beispiel Schweden, Brasilien oder einzelne Bundesstaaten der USA. Ungleich höhere Infektions- und Sterberaten im Vergleich zu Deutschland. Oder vor unserer Haustür: ein Treffen in einem Restaurant in Niedersachsen hat 18 neue Erkrankungen produziert (Quelle), ein Gottesdienst ein Frankfurt am Main zu 133 Erkrankungen (Quelle). Liegt es vielleicht doch an den ergriffenen Maßnahmen, das wir halbwegs glimpflich davon gekommen sind?
Und endlich, endlich kommt Herr Hirte zum Kern der Sache. Kinderärzte und Psychologen sollen Schutzmasken tragen. Das empfindet er persönlich als „tiefe Demütigung“. Er soll als studierter und promovierter Zuckerbäcker eine Schutzmaske tragen, um seine Patienten zu schützen. Wo kommen wir denn dahin? Weiter unter versteigt er sich dann noch zu der Aussage, seine Würde wäre seit Wochen eingeschränkt, denn er könne sich nur noch heimlich mit anderen treffen. Noch einmal zum Mitschreiben: ein Arzt trifft sich zu einer Zeit, in der eine ansteckende und potentiell tödlich verlaufende Krankheit grassiert, heimlich mit anderen Menschen seiner Denkungsart. Um die Würde aller Anwesenden zu bewahren sind diese Treffen 100% mundschutzfrei (Vermutung!). Am nächsten Tag sitzt dieser Arzt wieder in seiner Praxis, behandelt Patienten, spricht mit Eltern, Angestellten, vielleicht dem einen oder anderen Vertreter. Ob er dabei einen Mundschutz trägt, kann ich nur hoffen. Dieser Mann kotzt mich an.
Gegen Ende seiner Rede versteigt er sich dann noch zu Fantastereien, das die Mainstream-Presse (warum nicht Lügenpresse, wenn man schon mal dabei ist?) gäbe falsche Zahlen kritiklos wieder, die wirtschaftliche Existenz zu verlieren entwürdige Menschen (das eigene Leben oder einen Angehörigen zu verlieren wäre anscheinend die deutlich bessere Alternative) und als Schmankerl vergleicht er unsere derzeitige Situation mit dem Leben in Nordkorea. Dazu bedient er sich des Rechtsphilosophen Uwe Volkmann, der wohl etwas derartiges gesagt hat. Wie sehr würde ich mir wünschen, Herr Hirte wäre für einige Jahre gezwungen, in Nordkorea zu leben. Wie gerne würde ich ihm zuhören, wenn er bei seiner Rückkehr über Würde und Freiheit salbadert.
Es gäbe noch mehr, was an dieser Rede unbedingt kritikwürdig ist, aber ich habe keine Lust mehr.
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