Zeitreisen einfach gemacht

Zeitreisen einfach gemacht

Zeitreisen sind schon seit ewigen Zeiten ein Menschheitstraum. Was da nicht alles an Apparaturen erdacht wurde. Nur von Schriftstellern und Drehbuchschreibern, aber immerhin. Dabei ist es so einfach. Zumindest für mich.

Nämlich so: man bereite eine große Schüssel Götterspeise (grün oder rot, auf keinen Falle gelb) sowie einen guten Liter Vanillesauce zu. Sodann häufe man sich eine extraüppige Menge von ersterem in eine Schüssel und gieße einen ordentlichen Hieb von letzterem darüber. Einen Löffel gegriffen und reingehauen.

Zack

Schon bin ich gedanklich wieder in Omas Küche, sitze auf dem alten, abgeschabten und durchgesessenen Sofa an einem großen Tisch, dessen Wachstischtuch nur ein oder zweimal gewechselt wurde. Nicht pro Jahr, insgesamt. Mir gegenüber der alte Kohleofen, auf dem zu Zeiten, als mein Vater noch ein Junge war gekocht wurde und der lange Jahre (bis zum Einbau einer Zentralheizung) für die Erwärmung der Küche zuständig war. Manchmal durfte ich den Ofen mit Holz bestücken: ein Highlight. Im Wohnzimmer stand für diesen Zweck ein Kohleofen. An den durfte ich aber nicht ran. Rechts neben dem Sofa das Waschbecken mit fließend kaltem Wasser. Wer warmes Wasser haben wollte, mußte den antiken Wasserkessel befüllen und auf dem Herd erhitzen. Mangels Badezimmer in der Wohnung (eigentlich im ganzen Haus) wurde dort auch die Körperreinigung vorgenommen. An der linken Wand der weiß lackierte Küchenschrank aus Massivholz, angeschafft vor dem zweiten Weltkrieg (kein Witz). Tausend Fächer und Laden und hinter gar nicht wenigen verbarg sich etwas eßbares. Rechts an der Wand daß einzige Zeichen von Moderne: ein vierflammiger Gasherd. Nicht das in der Wohnung ein Gasanschluß vorhanden war. Es wurden Flaschen hochgeschleppt.
Nicht zu vergessen: mir gegenüber am Tisch sitzt jemand. Oma. Die ich, weil sie solange es ging Hühner hatte, genauso genannt habe: Oma Hühner. Wie immer hat sie ihre Zähne in der Tasche. Diese Tasche ist Teil einer Schürze, die sie ebenso selbstverständlich trug wie sie oder ich ein T-Shirt. Oma ohne Schürze gab es nur bei ganz ausgesuchten Gelegenheiten. Oma mit Zähnen im Mund statt in der Tasche noch seltener. Immer hatte sie Angst, daß jemand verhungern könnte. Glaube ich jedenfalls, denn was sie als Mengengerüst für einen Mittagstisch mit fünf Personen (meine Eltern, Oma, Opa, ich) angesetzt hatte, suchte seinesgleichen.

Zack

Der letzte Löffel Götterspeise ist gegessen, der letzte Tropfen Vaillesauce aus der Schüssel geleckt und ich bin wieder in meiner Wohnung, im heute. Leichtes Bedauern macht sich breit, wird aber schnell von der Gewißheit überdeckt, die Zeitreise jederzeit wieder antreten zu können.

Alles was ich brauche sind Götterspeise und Vanillesauce. So einfach kann das sein.

Schlauschiesser